A. Byford: Science of the Child in Late Imperial and Early Soviet Russia

Cover
Titel
Science of the Child in Late Imperial and Early Soviet Russia.


Autor(en)
Byford, Andy
Erschienen
Anzahl Seiten
322 S.
Preis
£ 69.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Andy Byford beginnt sein Buch mit einer höchst pointierten Einleitung, die nicht nur den Forschungsstand zusammenfasst, sondern auch einen überzeugenden konzeptionellen Rahmen für seine Überlegungen liefert. Weit über das inzwischen geläufige Schlagwort von der Verwissenschaftlichung der Kindheit um 1900 hinausgehend, macht der Autor die extreme Komplexität der sich in dieser Zeit entwickelnden Perspektiven auf Kinder und Kindheit deutlich. Hier kamen romantische Kindheitsverklärung, aufklärerische Zivilisierungskonzepte und Vorstellungen von „Entwicklung“, nurture-nature-Debatten, biopolitische Aspekte und umfassende Medikalisierungsprozesse zusammen. Verstärkt wurde diese Komplexität durch eine auf normative Festlegungen ausgerichtete Epistemologie der Humanwissenschaften und die Deutungsmacht des Bürgertums. Als Ergebnis beschreibt Byford ein transdisziplinär und transnational bestimmtes „soziales Feld“ der Kindheitswissenschaften, das von internen Konkurrenzen ebenso geprägt war wie von dem Versuch, sich über eine wirksame und möglichst allgemeingültige Verbindung der Schlüsselwörter „Kind“, „Wissenschaft“ und „Zukunft“ zu legitimieren.

Vor diesem Hintergrund analysiert Byford die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Kindheitswissenschaften des spätimperialen Russlands und der frühen Sowjetunion. Damit wird die aktuell florierende Forschung zur Verwissenschaftlichung der Kindheit um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur um einen weiteren Fall ergänzt. Die Position des zunächst als „rückständig“ verstandenen Russlands und dann der so explizit fortschrittlichen und wissenschaftlich verankerten Sowjetunion, in der vor allem der Begriff der Pädologie eine besondere Entwicklung erfuhr, ist von besonderer Relevanz. Byford füllt hier eine echte Forschungslücke. Die Entwicklung der russischen bzw. sowjetischen Kindheitswissenschaften wird – vom Autor ebenso wie von seinen Akteuren – im Rahmen der europäischen und nordamerikanischen Modernisierungsprozesse betrachtet; mit der präzisen Benennung spezifischer Aspekte beginnt der Autor bereits im Einleitungskapitel, wenn er zu den verschiedenen Kriterien und Methoden der Normierung kindlichen Wachstums und Verhaltens (statistisch, klinisch-diagnostisch, pädagogisch, moralisch) das in der Sowjetunion entwickelte Kriterium der ideologischen Normentsprechung hinzufügt. Obwohl Byford nachvollziehbarerweise keinen systematischen komparativen Ansatz verfolgt, argumentiert er deutlich präziser als die sonst häufig zu lesende, letztlich sehr vage Beschreibung der sowjetischen Moderne als „besonders“ oder „extrem“ ausgeprägt. Durch den breit gefassten Blick auf Kindheitswissenschaften entsteht nicht zuletzt eine interessante Perspektive auf die Pädologie, die in der westlichen Geschichtswissenschaft oft als „typisch“ sowjetisch gezeichnet wurde, als klassisches Beispiel für staatlichen Einfluss auf die Wissenschaften.

Byfords Buch ist grob in zwei Hälften unterteilt, von denen die erste sich mit der vorrevolutionären Zeit befasst, die zweite mit dem revolutionären Russland und der frühen Sowjetunion. Diese Struktur allein macht bereits wichtige Thesen des Buches deutlich: Das spätimperiale Russland ist nicht als bloße, kurz abzuhandelnde Vorgeschichte zu betrachten; Byford vermeidet teleologische Perspektiven; obwohl 1917 natürlich als Zäsur gesehen werden muss (der Autor spricht von der Revolution als „game changer“), sind doch langfristige Entwicklungen und konzeptionelle wie institutionelle Kontinuitäten für das Verständnis des Gegenstandes von zentraler Bedeutung.

Für das imperiale Russland analysiert Byford die Konzepte Obrazovanie (ungefähr dem deutschen Bildungsbegriff entsprechend) und Vospitanie (Erziehung) bei gebildeten Schichten und fragt nach dem Verhältnis von Eltern und Staat, Familie und Gesellschaft, Laien und Experten, das sowohl als arbeitsteilig als auch als kooperativ und zumindest potentiell kompetitiv verstanden werden kann. Das Ausleuchten dieses komplexen Spannungsverhältnisses mit verschiedenen Akteuren (zu denen die Kinder selbst allerdings nicht zählen) macht es möglich, die klassische Erzählung von der effizient disziplinierenden Verwissenschaftlichung zu verlassen. Eltern, gerade auch Mütter, erscheinen hier weder als brave Erfüllungsgehilfen der Wissenschaft noch als renitente Subalterne in einem übergriffigen Staat. Vielmehr wird deutlich, wie sich auch in Russland (in mancher Hinsicht vergleichbar mit westeuropäischen Gesellschaften) die Elite über ihre Ansprüche auf eine wissenschaftlich fundierte, gesellschaftlich nützliche Kindererziehung definierte. Nicht zuletzt bildete „das Kind“, um die Jahrhundertwerden dann vor allem „das problematische [zeitgenössisch: ‚das defektive‘] Kind“ ein wichtiges Argument zivilgesellschaftlicher Kritik am Staat. Darüber hinaus macht Byford die verschiedenen Ausprägungen, Abstufungen und das Ausfransen des Expertendiskurses deutlich, in dem Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit, unterschiedliche Disziplinen, Autoritäten und Institutionen gerade erst etabliert wurden.

Während die Familie seit dem frühen 19. Jahrhundert wichtiges Subjekt, Objekt und Schauplatz der Verwissenschaftlichung von Erziehung war, konstatiert Byford vor allem für die Zeit seit den Großen Reformen eine schnellere und entschiedenere Entwicklung. Um die Wende zum 20. Jahrhundert begann eine Offensive zur wissenschaftlich basierten Reform des Schulwesens und der Lehrerausbildung. An dieser Stelle analysiert Byford auch psychologische Ansätze und erweitert so die häufig zu findende wissenshistorische Konzentration auf die Medikalisierung der Kindheit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Kindheitswissenschaftler machten nun Lehrer zu einer neuen Ziel- und Konsumentengruppe. Obwohl der Staat diese neue Form des Zugriffs auf die Schule durchaus begrüßte, gestaltete sich ein solches Betreten eines neuen Terrains für die Wissenschaftler nicht unproblematisch. Ob zunächst Familie oder später Schule – die Zuständigkeit der Wissenschaftler war hier alles andere als selbstverständlich. Immer wieder stellte sich die Frage, wer als Experte gelten konnte und welchen Status die Wissenschaft der Praxis zubilligen wollte. Der Blick auf die Schule macht deutlich, wie spät und dennoch relevant die soziale und räumliche Ausdehnung der kindheitswissenschaftlichen Perspektive war: Insbesondere die Ausweitung und Spezifizierung der Schulpflicht und die Einrichtung von Sonderschulen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts rückte auch Kinder in den Blick, die eben nicht der gebildeten Elite des europäischen Teils des Imperiums entstammten.

Die Bedeutung der Revolution sucht der Autor dabei weniger in einer ideologischen Kehrtwende als vielmehr in dynamischen, nicht immer gestalt- und kontrollierbaren Prozessen. Byford betont die neuen Vorstellungen von einer revolutionären Gesellschaft und einem radikal interventionistischen Wohlfahrtsstaat, der deutlich umfassendere Aufgaben an sich zog als vor 1917. Mindestens ebenso wichtig für Bildungsreformen und veränderte Kindheitswissenschaften aber waren die Auswirkungen der Revolution selbst (hier natürlich insbesondere die in der Forschung bereits intensiv untersuchten zahllosen obdachlosen Kinder, die Besprizorniki). Auch richteten sich Bildungsehrgeiz, Medikalisierung und psychologische Ansätze nun auf weitaus größere Bevölkerungsgruppen, als dies vor 1917 der Fall gewesen war – auch dies führte zu neuen Herausforderungen. Während die Vorstellung von „Russlands Kindern“ vor 1917 relativ abstrakt geblieben war und die Kindheitswissenschaften sich in erster Linie mit dem Nachwuchs der Elite befassten, ging es nun um „echte“ Kinder in großer sozialer und ethnischer Vielfalt, auf die der Staat möglichst effizient zugreifen wollte. Die neu definierte „Pädologie“ beschreibt Byford dabei sehr überzeugend als relativ offenen Schirm- und Rahmenbegriff, der die in das Mammutprogramm involvierten Wissenschaften und Institutionen überwölbte. Eine weitere Zäsur erkennt Byford in der Bildungsreform der 1920er-Jahre, die einsetzen konnte, als die Verwerfungen von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg sich halbwegs beruhigt hatten. Dabei interessieren ihn weniger die enormen organisatorischen Anstrengungen, die zur schnellen Alphabetisierung der jungen Bevölkerung unternommen wurden, als vielmehr die inhaltliche und konzeptionelle Neugestaltung des Bildungswesens. Die Reformen waren zentralistisch mit gleichzeitiger großer Betonung lokaler Bedürfnisse – das Bild „des Kindes“ war ebenso normativ wie die traditionellen Vorstellungen, gestaltete sich nun aber deutlich heterogener. Die hier angestrebten Ziele waren zwar durchaus radikal (inklusive der Abschaffung des regulären Fächerkanons, der Hausaufgaben, der Strafen und Zensuren), bezogen sich dabei aber sowohl auf die Grundsätze der neuen revolutionären Gesellschaft als auch auf ältere Konzepte, so die von Tolstoj oder Dewey; die Kindheitswissenschaften begleiteten den Prozess, blieben aber hinter dem Tempo der politisch gewollten Veränderungen zurück. Dies passt sich in das Gesamtbild der Humanwissenschaften der Zeit ein, die betont revolutionär waren und ihre Ablehnung überkommener Paradigmen betonten, aber nicht unbedingt streng ideologisch oder gar dogmatisch marxistisch orientiert waren. Ähnliches gilt für die berühmt-berüchtigte Pädologie. Dieser Versuch, eine integrierte Rahmenwissenschaft für die Beschäftigung mit und die Formung von Kindern (und letztlich aller Menschen) zu gestalten, war vor allem von einer Betonung des angeblich Neuen und der Negierung westlicher Vorläufer bestimmt. Ein klarer ideologischer Kern ist schwer zu bestimmen.

Und schließlich fragt Byford auch hinsichtlich des unrühmlichen Endes der Pädologie 1936 nicht nur nach ideologisch motivierten – oder auch rein willkürlichen – Machtentscheidungen „von oben“, sondern sucht nach Problemen und Kritik in der Praxis. Die klare Benennung von Problemen und die unerwartet große Zahl von Kindern mit Schulproblemen, das Auftauchen politischer Auseinandersetzungen an Schulen, unliebsame Kritik an verankerten Strukturen und größere oder kleinere „moral panics“ führten zu einer grundlegenden Wendung gegen die Schlüsselwissenschaft der Pädologie. Machtkämpfe auf verschiedenen Ebenen führten schließlich zu einer radikalen Umkehr und der Abschaffung der Pädologie – einschließlich zahlreicher an sie geknüpfter Institutionen.

Die große Komplexität, die Byford auf beeindruckende Weise analysiert, unterstützt seine zentrale These von der Kindheitswissenschaft als „soziales Feld“. In bester wissenshistorischer Manier werden wissenschaftliche Entwicklungen zurückgebunden an gesellschaftliche Entwicklungen, politische Konjunkturen, individuelle Handlungspräferenzen, aktuelle Krisen und natürlich Machtstrukturen und Hierarchien. Dies macht das Buch nicht nur für Kindheitshistoriker:innen so überaus wertvoll, sondern weit darüber hinaus.